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Andreas und Peter wundern sich heute nicht mehr, warum ich jeden Stich beim Skatspielen mitzähle, alles was gelaufen ist im Kopf behalte und am Ende genau weiß wer wieviele Punkte hat, sogar manchmal meinen Vordermann auffordere eine bestimmte Karte zu spielen, obwohl ich es garnicht wissen dürfte – naja, da ist auch ein bisschen Glück dabei. Sie haben Spaß und ich auch, verdanke ich dies doch meinen Großeltern mütterlicherseits, Oma Marie und Opa Bernhard. Welche wohligen Erinnerungen überkommen mich, wenn ich an die beiden denke. Nur einige Zitate, „Uih, Marie, die Tunke“ oder „ich mach Dir die Fürze locker“, oder … um nur einige zu nennen. Und dies war sehr liebevoll gemeint. Ich hatte eine sehr enge Beziehung zu meinen Großeltern, habe sie sehr geliebt – heute noch – auch wenn sie nicht mehr hier sind.

Sie sind die Jahrgänge 1911 und 1913, eine Kriegsgeneration aus Schlesien, die 1945 zweimal im grossen Treck ihr Dorf, ihr selbstgebautes Haus verlassen mußten. Weg aus ihrer Heimat in einen fernen Ort um dort als Flüchtling mehr schlecht als recht aufgenommen zu werden. Hier werde ich emotional sehr getriggert, habe ich mich doch selbst für die Flüchtlinge aus der Zeit 2015, also die, die aus dem Mittleren Osten kommen, engagiert und mußte selbst erleben, was ihnen hier widerfuhr. Parallelen zu meinen Großeltern? Ja! Fragmente der Flucht von 1945 hat mir Opa Bernhard erzählt, spannende Fragmente und auch Bruchstücke des Grauens, und Oma Marie hat mir auch einiges erzählt, von Vergewaltigungen durch die Russen, vom Verstecken auf dem Dachboden. Und meine Mutter, die während des grossen Tricks gerade sechs Jahre alt war, sprach von Toten links und rechts entlang des Weges, denen man die Stiefel oder andere Sachen abnahm um irgendwie über die Runden zu kommen. Für jemanden wie mich, der ohne Entbehrungen groß geworden ist, wie eine andere Welt.

Es gab Zeiten, da verbrachte ich als kleines Kind jede freie Minute bei meinen Großeltern, auch bei den Eltern meines Vaters, ich liebte es, sie hatten soviel Geschichten, als Kind war mir der Wahrheitsgehalt und deren Bedeutung für die Großeltern selbst und ggf. der Einfluß, den manche Erlebnisse auf mich haben konnten nicht wirklich klar. Ich bleibe jetzt erstmal bei den Eltern mütterlicherseits, denn es geht ja ums Skatspielen und wie ich es gelernt habe.

Dienstag war der Tag, an dem wir, also meine Mutter und ich, meine Großeltern besuchten. Es war ein fester Tag mit einer festen Uhrzeit. Wir leben in Deutschland und da sind Pünktlichkeit und feste Termine nun mal wichtig. Gegen halb drei sind wir von zu Hause los, und in einem normalen Tempo waren wir dann in ca. 10 Minuten bei Ihnen. Sollten wir tatsächlich mal aus irgendeinem Grund, keine Ahnung, so etwas wie Schulaufgaben, oder meine Mutter hatte noch schnell etwas zu Ende genäht, ja sie nähte, hatte sogar in einem Modegeschäft gearbeitet, sich von dort günstig Stoffe mitgebracht und dann Kleider, Röcke, Blusen zusammengenäht was das Zeug hält. Es gab Schnitte, eine Nähmaschine, Nadeln, Fäden, und Mama hatte irgendwie immer etwas Neues zum Anziehen an. Mir hat sie auch schon mal was genäht – insbesondere erinnere ich mich an Sachen, die ich während meiner Pubertät anziehen mußte oder sollte, nein, mußte. Das war so fürchterlich.

In der Pubertät wollte ich, wie wahrscheinlich alle, einfach nur ein bisschen cool sein, doch mit einem selbstgenähten schwarzen Lodenmantel mit Kapuze ging dies einfach nicht, doch aufgrund meiner konformen und konfliktscheuen Lebensweise zog ich ihn an und fühlte mich zusätzlich zu meiner Zahnprothese und meiner Pubertät auch noch wegen meines Lodenmantels super unglücklich. Und dann hatte der Lodenmantel noch so ein dunkelrotes Innenfutter, und die Knöpfe vorne waren gar keine richtigen Knöpfe, sondern so hebelartige Geschwulst-ähnliche Bügel, die man durch auf der anderen Seite angebrachte Schlaufen ziehen konnte – so furchtbar!!! Was sollte noch alles kommen?

Es gibt ja immer Steigerungen und das Non-Plus-Ultra bei den selbstgenähten Sachen war dann eine Stoffhose. Das Muster und der Stoff selbst wären ja noch okay gewesen, hätte die Hose nicht auch einen Reißverschluß gehabt – vorne, wo sonst. Und dieser Reißverschluß sah so aus wie der von Röcken, so nach außen gewölbt der Fachterminus heißt Spiralverschluß. Nein, es war so schrecklich. Es war eine der ganz wenigen Sachen, bei denen ich Widerstand leistete, denn diese Hose konnte ich einfach nicht anziehen, ohne zum Gespött der ganzen Schule zu werden – dachte ich damals. Aus heutiger Sicht wäre es a) vlt. keinem aufgefallen und b) falls doch, man sich gar nicht so an mich angetraut hätte, da ich zwar soft, jedoch ziemlich groß und muskulös war.

Ich meine mich zu erinnern, dass es viele Jahre waren, in denen meine Mutter nähte und somit einerseits happy war, weil es immer etwas Neues gab und andererseits das Gefühl vermittelte sparsam zu sein, und dies war ihr aufgrund des nahenden Hausbaus doch sehr wichtig.

Ja, wir, also unsere Familie wollten kaufen oder bauen, jedoch ohne Entbehrungen leiden zu müsen. Die Urlaub sollten weiter laufen und auch sonst wollte man auf nichts verzichten. Nun, wenn wir also bei Oma Marie zu spät kamen, zu spät heißt 1450 statt 1440 oder gar 1500 statt 1440, dann entgegnete sie uns recht emotional mit „Kimmt ihr ah no“, was soviel heißen sollte wie „Kommt ihr auch noch“. Nun, hier ist zu sagen, dass meine Oma und Opa in eher ärmlichen, doch glücklichen Verhältnissen lebten und die Abwechslung in ihrem Leben keine hohe Frequenz einnahm, somit unser Besuch schon ein ziemliches Highlight der Woche war. Der Nachmittag verlief in etwas immer so, dass bis 17:00 Uhr Skat gespielt, dann der Tisch gedeckt und mit meinem Vater gemeinsam Abend gegessen wurde. Auch hier gab es einen gleichmäßigen Ablauf, denn mein Vater sagte so gut wie nix, was ihm sowohl von meiner Mutter, wie von meiner Oma angekreidet wurde. „Sag doch mal was“, „Erzähl doch mal was“ und als Eskalationsformulierung noch „er kriegt den Mund wieder nicht auf“. Während mein Paps bei den ersten zwei Aussagen noch recht entspannt und ohne eine Miene verziehend weiter gespeist hat, konnte ihm das mit dem Mund nicht aufbekommen, schon einen bösen, leicht bitteren Blick entlocken. Das fand er nun gar nicht gut, obwohl er es von den anderen Dienstagen ja schon kannte. Es gab da nichts Neues und es hat sich in meinem Kopf nur deshalb so gut eingeprägt, weil es eben immer ziemlich genau gleich war. Na, und dann gab es zum Essen für meinen Papa Bier, vorher zum Skat gab es für alle Beteiligten, außer für mich, denn ich war ja gerade – wie alt war ich denn? – so zwischen 4 und 17, ich glaube 13 Jahre bin ich dienstags zu meinen Großeltern gestiefelt, und immer mit demselben Ablauf.

Der Alkohol erfüllte dann auch noch seinen Zweck bei „ er bekommt den Mund wieder nicht auf“, so dass manchmal die Eskalation in eine Starre mündete, niemand sagte mehr was und wir gingen dann – eigentlich auch wie immer – gegen 18:30 oder 19:00 Uhr nach Hause.

So, jetzt zum Skatspielen. Es spielten, als ich es noch nicht beherrschte, also so bis ich ca 8 war, denn ab da ging es schon, hatte ich doch vorher immer gut aufgepaßt, immer meine Oma, mein Opa und meine Mama. Ich saß auf der Coach, meine Mutter auf dem Sessel links neben mir, meine Oma gegenüber und mein Opa rechts von mir. Meine Aufgabe bestand darin, am Ende eines Spiels das Geld zu verteilen. Es handelt sich dabei um Pfennige hin und her schieben, denn sie spielten um einen Zehntel Pfennig. So richtig gezeigt wurde mir hier nichts, denn man wollte ja richtig Skat spielen und da hätte eine Lehrtätigkeit nur aufgehalten, also mußte ich einfach nur aufpassen und das tat ich mit einer Präzision und Merkfähigkeit, die ich bei Schulsachen sicherlich so nicht hatte. Zusätzlich gab es dann bei bei Zeiten, in denen ich meine Großeltern alleine besuchte noch Offziersskat und Spiel 66, bei denen mir die Großeltern alles verrieten, was sie wußten, und dadurch lernte ich es genau zu spielen, so dass es mir für mein Leben blieb. Ich profitiere bis heute davon und erinnere mich, wie ich im Schulbus, später so als ich 11 oder 12 war, die anderen abzockte, dann Katharina dieses Spiel beibrachte, sie liebte es und wir spielten es bei unseren Kreta Urlauben mit meinen Eltern, und zuletzt, also bis heute mit Peter und Andreas, so alle 6 bis 7 Wochen bei einem von uns.

Mein Opa klagte oft über Kopfschmerzen und später über Magenschmerzen. Die Kopfschmerzen legten sich, als er endlich mal von einem Zahnarzt behandelt wurde, da war wohl sehr viel in Unordnung, in seinem Mund. Die Magenschmerzen endeten mit Magenkrebs, der wohl schon breit gestreut hatte. Während die anderen am Krankenbett nicht mehr mit ihm kommunizierten, besuchte ich ihn, setzte mich neben ihn, und bat ihn meine Hand zu drücken. Bei Ja, einmal, bei Nein, zweimal und das funktionierte. Ich habe ihn sehr geliebt. Meine Oma ist 87 geworden, war bis zu ihrem 85. in meinem Elternhaus untergebracht, danach in einem Pflegeheim. Mein letzter Besuch endete in einem Heulkrampf. Ich kam in ihr Zimmer und erkannte sie nicht. Sie lag dort in ihrem Bett auf dem Rücken, den Mund weit geöffnet. Ich dachte, falsches Zimmer und lief zur Schwester, die mir versicherte, es sei meine Oma. Ich brach in Tränen aus, ging wieder in ihr Zimmer und versuchte Kontakt aufzunehmen.